Der weite Weg nach Bethlehem
oder
Die Schnecke Sofia
Ein Schattenspiel nach einer Erzählung von Annegret Fuchshuber
Im fernen Land Israel lebte vor 2000 Jahren eine Schnecke.
Die hieß Sofia. Sie war schon uralt und hatte viel von der Welt gesehen. Ihr Fuß kannte jede Falte der Erde und jedes Sandkorn der Wüste und in ihrem Haus hörte sie die Weltmeere rauschen.
Die Schnecke wartete. Sie wartete - ohne recht zu wissen worauf.
Eines Tages hörte sie einem Gespräch zu. Da sprachen zwei Leute im Vorübergehen über den Heiland der Welt. Das sollte einer sein, der einem die ganze Last abnimmt.
In Bethlehem sagen diese Leute, da soll er auf die Welt kommen.
Sofia war neugierig geworden. So ganz hatte sie das mit dem Heiland ja nicht verstanden, aber sie dachte sich: „ Ich kann mir das ja mal angucken, das interessiert mich.“
Und so machte sich die Schnecke auf den Weg: langsam und bedächtig.
Als Sofia ein Stückchen gegangen war, traf sie jemanden. Wen, glaubt ihr, habt sie da getroffen?
Richtig, einen Wolf. Der war ganz schön groß dieser Wolf – mit einem struppigen Fell und einem riesigen Maul voll scharfer Zähne. Er knurrte Sofia böse an. Aber die störte das nicht, sie ging einfach weiter.
Wolf: He, hast du keine Angst vor mir, dem bösen Wolf?
Sofia: Warum sollte ich Angst vor dir haben?
Wolf: Na, die Menschen halten mich für böse, weil ich ihre Schafe fresse.
Sofia: Und wozu brauchen die Menschen die Schafe?
Wolf: Weil sie sie selber gerne essen.
Sofia: Aha, und sie nennen dich böse, weil du das gleiche tust wie sie? Dann bist du ja eigentlich nicht böser als die Menschen.
Wolf: Ja, so genau hab ich mir das noch nicht überlegt. Hmm - sag mal, wo gehst du denn eigentlich hin?
Sofia: Ich gehe zu einem, der in Bethlehem auf die Welt kommt. Sie nennen ihn Heiland.
Wolf: Was ist denn ein Heiland?
Sofia: So genau weiß ich das ja auch nicht. Jedenfalls habe ich gehört, dass der Heiland einer sein soll, der alle liebt.
Wolf: Auch einen Wolf?
Sofia: Kann schon sein – am besten, du schaust ihn dir selber an.
Wolf: Na ja, vielleicht hast du ja Recht – jedenfalls bin ich neugierig geworden.
Die Schnecke Sofia ging weiter bis sie auf einen schönen Krautacker traf.
Sie legte eine kleine Pause ein und ließ sich zwei saftige Blätter schmecken. Danach machte Sofia ein Mittagsschläfchen. Aber lange konnte sie sich nicht ausruhen, denn da stupste sie plötzlich ein Schaf an!
Sofia: Ach du liebe Zeit – ich habe verschlafen – so was, dabei habe ich es doch eilig! Ich muss sehen, dass ich weiter komme.
Schaf: Mäh – wohin denn so eilig, du Schnecke?
Sofia: Nach Bethlehem – zum Heiland der Welt.
Schaf: Was willst denn DU beim Heiland der Welt? Na, der wird ausgerechnet auf DICH warten - da muss ich ja lachen – mäh.
Sofia: Wie meinst du das denn jetzt – warum soll er nicht auf mich warten?
Schaf: Na ja - Heiland - ich mein, das klingt irgendwie wichtig und was soll so einer schon mit unsereins. Du bist ein Schädling – frisst die guten Krautblätter auf und zu mir sagen alle nur „du dummes Schaf“.
Sofia: Ich hab gehört, der Heiland ist anders. Das soll einer sein, der alle wichtig findet. Außerdem hast du auch Wichtiges anzubieten!
Schaf: Was meinst du damit?
Sofia: Na, was glaubst du, wie sich der Heiland über deine weiche, warme Wolle freut.
Schaf: Ja wirklich? Meinst du? – Ich muss ja zugeben, ich hab ein ganz besonderes, weiches Fell! Na ja, wenn er sich über mein besonders schönes Fell freut, dann mach ich mich auch auf den Weg.
Die Reise war ganz schön schwer für Sofia und manchmal, da hat sie ans Umkehren gedacht. Aber die Neugier war größer als die Anstrengung. An einem grauen Nachmittag wurde Sofia behutsam aufgehoben und ins Gras am Straßenrand gesetzt. Guckt mal – wer hat das denn wohl getan?
Eine alte Frau hat sie ins Gras gesetzt.
Frau: Pass auf, du Schnecke, sonst tritt noch einer auf dein hübsches Haus.
Sofia: Danke, das ist aber sehr nett von dir. Aber sag mal, alte Frau, warum brauchst du einen Stock – und warum hast du so einen krummen Rücken?
Frau: Ach, weißt du, das ist das Alter. Ich hab schon viel erlebt in meinem Leben – es war nicht immer leicht für mich. Man sollte eben nicht alt werden.
Sofia: Sag das nicht – ich bin auch alt. Trotzdem habe ich noch viel vor!
Frau: So, so! Was hat denn eine Schnecke noch so vor?
Sofia: Ich bin schon viele Tage unterwegs nach Bethlehem und wahrscheinlich wird es auch noch ganz schön dauern, bis ich endlich dort ankomme.
Frau: Nach Bethlehem? So weit? Wie hast du bloß die Kraft dazu?
Sofia: Gott schenkt sie mir! Jeden Tag neu. Und sein Sohn, der Heiland der Welt, der wird auch für die Alten und Schwachen und Müden da sein und ihnen Kraft geben, glaub mir.
Frau: Wie gut das tut, was du da sagst. Weißt du was? Ich gehe auch los. Und unterwegs, da tragen wir einander. Wenn du nicht mehr kannst, trag ich dich auf meinem Rücken. Und wenn ich nicht mehr kann, erzählst du mir von Gott und vom Heiland der Welt. Du hast mir auf meine alten Tage Mut gemacht.
Von Tag zu Tag wurde die Reise mühsamer. Da begegnete Sofia einem Esel.
Er knabberte behaglich an einer Distel. Er sah ziemlich zufrieden aus.
Sofia: Kannst du mir sagen, ob das der richtige Weg nach Bethlehem ist?
Esel: Das fragst du gerade mich?
Sofia: Ja wieso denn nicht?
Esel: Ich kann dir gar nichts sagen – ich bin dumm. Das sagen die Menschen über mich. Kennst du das Sprichwort nicht: Du dummer Esel?
Sofia: Glaubst du, alles, was die Menschen sagen, stimmt?
Esel: Warum sollten sie lügen?
Sofia: Sie müssen ja nicht gleich lügen, sie könnten sich ja auch einmal irren.
Esel: Du hast Recht, man kann sich schon einmal irren – aber das mit dem dummen Esel, das sagen sie sehr oft. Ich gebe ja zu, dass ich darüber sehr traurig bin. Aber was soll ich dagegen tun? Soll ich vielleicht chinesisch reden, damit sie mich für klug halten?
Sofia: Na ja – ich glaub, dass auch die chinesischen Esel „iah“ schreien. Das würde keinen Unterschied machen. Es muss einen anderen Grund geben.
Esel: Vielleicht finden sie es ja auch dumm, dass ich mir alle ihre Lasten aufladen lasse, ohne zu murren, dass ich stundenlang für sie arbeite, ohne mich zu beschweren. Ich bin genügsam und stelle keine Ansprüche.
Sofia: Du, Esel, ich glaub die Menschen verwechseln Dummheit mit Gutmütigkeit. Ich hab schon gehört, dass auch gute Menschen „dumm“ genannt werden.
Esel: Wenn du meinst, dass ich nicht dumm, sondern gutmütig bin – das freut mich schon sehr!
Sofia: Und du wirst sogar einmal ganz berühmt werden! Wenn wir die Propheten richtig verstehen, dann könntest Du einmal der Esel sein, der den Heiland in die Stadt Jerusalem trägt.
Esel: Wer ist denn das, der Heiland?
Sofia: Das ist der, der in wenigen Tagen in Bethlehem zur Welt kommen wird. Deshalb wollen wir dort hin. Wenn er größer ist, ist er ein bisschen so wie Du: gutmütig, einer der die Lasten der Menschen trägt und ausgelacht wird.
Esel: Den will ich auch sehen!
Nach einer Weile kam Sofia auf eine wunderbare Wiese mit saftigem Löwenzahn. Auch ein Ochse stand auf der Wiese und fraß Gras.
Um ein Haar hätte er Sofa mitgefressen.
Ochse: Ham mnjam njam ..........
Sofia: He, kannst du nicht aufpassen?
Ochse: Entschuldi- gung! Ich habe dich nicht gesehen.
Sofia: Immer müssen die Kleinen unter den Großen leiden!
Ochse: Sag das nicht. Ich zum Beispiel: Ich muss sehr unter den Menschen leiden. Dabei sind die viel kleiner als ich. Von früh bis spät plagen sie mich.
Sofia: Lass es dir nicht gefallen, Ochse! Komm und geh auch nach Bethlehem. Dort wird bald der Heiland der Welt geboren. – Du, da fällt mir gerade ein: Sogar der Prophet Jesaja schreibt von Dir: „Ein Ochse kennt seinen Herrn und ein Esel die Krippe seines Herrn.“ – Es könnte doch möglich sein, dass du und der Esel … Ja, das ist es! Komm schnell!
Ochse: Tut mir leid. Ich versteh überhaupt nichts.
Sofia: Macht nichts! Glaub mir: Man braucht dich dort!
Ochse: Meinst du, ich könnte vielleicht das Kind anpusten mit meinem warmen Atem, wenn es friert?
Sofia: Ja, zum Beispiel.
Ochse: Oder auf das Kind aufpassen, wenn seine Mutter mal schlafen will?
Sofia: Auch das! Aber nun los!
Sofia wanderte auch bei Nacht unter dem Sternenhimmel. Dann hatte sie immer ganz besonders schöne Gedanken. Und außerdem durfte sie auf keinen Fall den großen Stern versäumen, dem sie immer noch folgte.
Da kam sie an ein kleines Feuer, neben dem sie jemanden ein Lied spielen hörte. Es war ein trauriges Lied. Ein junger Hirte spielte es.
Sofia: Warum spielst Du mitten in der Nacht so ein trauriges Lied?
Hirte: Weil ich Angst habe.
Sofia: Wovor hast Du denn Angst?
Hirte: Vor der Dunkelheit.
Sofia: Vor der Dunkelheit brauchst Du nicht mehr lange Angst zu haben. Bald wird ein Stern aufgehen, der alle anderen Sterne überstrahlt. Dann wird der Heiland geboren, das Licht in der Finsternis.
Hirte: Das verstehe ich nicht.
Sofia: Ich auch nicht. Aber es ist eine uralte Weissagung. Und wenn wir daran denken, vergeht unsere Angst.
Hirte: He, ich finde, es ist schon ein bisschen heller geworden.
Sofia: Kein Wunder, Hirte – da schau hinauf zum Himmel. Da ist er, unser Stern. Schau doch, wie groß und strahlend er ist. Das ist der Stern von Bethlehem. Dort wird der Heiland geboren.
Hirte: Sagtest Du „Bethlehem“? Schaut mal, da drüben liegt Bethlehem. Gleich dort. Kommt, ich zeig es dir!
Sofia: Mein Gott, Hirte. Mir ist ganz schwindelig vor Freude. Du, bitte nimm mich in die Hand und trag uns das letzte Stück. Dann sind wir schneller beim Kind.
Zärtlich nahm der Hirte Sofia in die Hand. Er spürte ihr kleines Herz klopfen. Um sie zu beruhigen sang er ein Lied. Dann spürte er, wie sie sich in ihr Haus zurückzog. Jetzt betet sie, dachte er.
Sie fanden den Stall ganz leicht, weil der schöne Stern darüber stand.
Der Hirte setzte Sofia wieder auf den Boden. Hinein in den Stall wollte sie allein gehen! Und dann kam der große Augenblick.
Sofia kroch langsam auf den Stall zu. Ganz langsam kroch sie über die Schwelle. Und dann sah sie das Wunder der Heiligen Nacht. Sie sah, was sie seit Jahren geträumt hatte. Und es war genau so, wie es die alten Propheten geweissagt hatten.
Sie sah all die Menschen und Tiere, denen sie unterwegs begegnet war: Der Ochse hauchte schon eifrig seinen warmen Atem in die Krippe. Mit verklärtem Gesicht stand der Esel neben ihm. Er dachte sicher an Jerusalem. Friedlich standen Wolf und Schaf beisammen. Die alte Frau sah ganz jung aus und strahlte überglücklich.
Sie sah die Mutter und den Vater. Und dann sah sie das Kind. Aber …! Sie bekam einen großen Schrecken! Es war so winzig klein, dass sie sich nicht vorstellen konnte, dass dies der versprochene Erlöser sein sollte. Sie hatte ja gewusst, dass er kein Schloss hat, aber sie hatte sich vorgestellt, dass er ganz aus Licht sein würde.
Da sah das Kind Sofia an. Zwischen all den Menschen sah es auf die Schnecke. Und es lächelte Sofia an. Das Kind streckte die Hand aus und leicht und froh kroch Sofia ihm entgegen.
Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie gerne behalten!!!